Angelika Richter – “Der hysterische Strich”

Der hysterische Strich

Der Strich ist ein von Künstlerinnen initiiertes Projekt, das mit einer Gruppenausstellung in Berlin beginnt. Unter dem Titel Hysteria nähern sich zehn internationale Positionen in Objekten, Installationen, in Malerei, Collagen und Videoarbeiten dem ambivalent besetzten Phänomen der Hysterie. Dessen klinische Erfindung ging mit der Entdeckung des Unbewussten einher, bei Festschreibung des weiblichen Körpers und seiner Störanfälligkeit.

Die Ausstellung legt mit aktuellen Arbeiten den Fokus auf einzelne Aspekte der strukturellen und begrifflichen Komplexität der Hysterie. Sie verzichtet auf einen kulturhistorischen Rückblick und die Einbeziehung von künstlerischen Statements zum Subjekt- und Objektstatus des Körpers aus den 1960er oder 1970er Jahren. Ausgeleuchtet wird hier das Verhältnis von Körper, Repräsentation und Raum sowie von psychischer und physischer De-Formation. Strategien der Übersteigerung lassen sich in der Produktionsweise der Künstlerinnen und in der formalästhetischen Umsetzung finden. Die Arbeiten verweisen auf die Expressivität des Materials und der Form sowie auf das Moment der Instabilität und des übergangs.

Heike Gallmeiers und Tolia Astakhishvillis Gemeinschaftarbeit “Die Passage” (Sounddesign Dylan Pieirce) entfaltet imaginäre Räume, die leer und unbehaust sind. In ihrer überlagerung werden sie als fragile Konstruktion sichtbar. Die zwischen realem Ort und fiktivem Raum changierende Architektur wird zum Symptom der mentalen Verfasstheit der Person, die sie durchläuft.

Die mit Selbstinszenierungen arbeitende Künstlerin Vanessa Wood betreibt in ihrer Collage “Mrs. Wood” den Prozess der Auflösung. Ihr Selbstportrait zeigt nur die äußeren Umrisse ihrer Erscheinung, ihre Haare und den wie ein charakteristisches Attribut im Arm gehaltenen Pudel. Die Identität von Frau Wood geht – nicht ohne Selbstironie – über in die Struktur der Furnierwand, die den Raum dominiert.

“Dreaming of Modulor III” von Annette Gödde liest sich als Kommentar zu Macht-Parametern der Architektur. In seiner theoretischen Abhandlung Modulor entwickelte Le Corbusier ein Proportions-System. Menschliches Maß und objektive Ordnung sollten darin zusammengeführt werden. Der weibliche Körper spielte in seiner Systematik keine Rolle. Die in der Videoarbeit schlafende Person befindet sich in einem Raum, der die Beschaffenheit eines Architekturmodells hat. Gefangen in einer Endlosschleife durchläuft der Traum den Raum, um immer wieder dorthin zurück zu kehren und niemals wirklich anzukommen.

Camilla Dahls tiefschwarzes und auf Hochglanz lackiertes Wandobjekt wendet sich direkt an die Ausstellungsbesucher. “Close your eyes Open your mouth” ist eine Einladung, sich in die Dunkelheit der Installation zu begeben. Der durch die Form der Wandinstallation vorgegebene Zwang zu körperlicher Anpassung wird transformiert in das Moment ungewöhnlicher Selbsterfahrung.

Die in strahlendem Weiß gehaltene Rauminstallation von Sandra Meisel visualisiert auf abstrakter Ebene die Begegnung mit dem hypothetischen, unsichtbaren Bereich unseres Daseins. In “NASTRALG 2 – Verkehr mit dem Unbewussten” verbindet ein System von Verstrebungen einen Stuhl und ein auf dem Boden stehendes bauchiges Gefäß. Gleich dem klassischen Seelenmodell scheinen hier die drei Instanzen des Ich, Es und über-Ich symbolisch miteinander zu kommunizieren.

Die grundlegende Struktur des Subjekts in seiner Selbst-Entfremdung wird in Natalie Czechs zweiteiliger konzeptueller Fotografie thematisiert. Der Blick in den Spiegel geht mit Erkennen und Verkennen einher. Die imaginäre Einheit des Spiegelbildes lässt sich in der Realität nicht erfahren: Ich ist ein Anderer.

Szenen größter Aggressivität und tiefster Melancholie bieten die weiblichen Figuren von Kimberly Clark. Sie sind dabei schön, glamourös, süchtig. In der Installation “Swansong (give her enough to shake your world)” lehnt eine Figur an einem beachtlichen Kistenstapel mit geleerten Bierflaschen. Sie verharrt in der exstatischen Pose einer Kate Winslet aus Titanic, zugleich schicksalsergeben in Kreuzigungshaltung mit anklagendem, nach oben gerichtetem Blick. Dass die drei Künstlerinnen Iris van Dongen, Josepha de Jong und Ellemieke Schoenmaker unter dem Pseudonym eines der weltgrößten Hygieneherstellers agieren und in den Figuren ihr Alter Ego zeigen, verweist auf ihre künstlerische Double-Bind Strategie. Sie inszenieren perfekte Oberflächen und sorgen zugleich für ihre Anfälligkeit.

Patrycja German ist unter den teilnehmenden Künstlerinnen diejenige, die ihre Person und ihren Körper direkt als Medium einsetzt. In der auf Video aufgezeichneten Performance “80 versus 3″ lädt sie drei Männer ein, sie nacheinander zu tragen und weiter zu reichen. Ihre Nacktheit tritt dabei immer mehr in den Hintergrund. Ihr Körper wird zu einer abstrakten Last und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Anstrengung, denen die männlichen Körper ausgesetzt sind.

Anja Schwörers Malerei bietet ein verwirrendes, halluzinogenes Universum informeller, amorpher Muster und klar konzipierter geometrischer Abstraktion. Die durch die kunsthandwerklichen Methoden des Bleichens und Färbens von Stoffen zufällig und spontan entstandenen Farbflächen bilden mit der perfekten Linienführung eine Dualität, die ohne das andere Element nicht zu ihrem “bewusstseinserweiternden” Effekt führen würde.

Sabine Groß’ “Kampfplatz” zeigt deutliche Spuren aufwühlender Aggression. Das Moment der Authentizität aber ist in Wirklichkeit künstlich arrangiert. Das echt wirkende, aber in Epoxydharz gegossene Schlammfeld erzeugt eine Leerstelle bei gleichzeitiger überpräsenz. Die Frage nach der wahren Identität bleibt offen stehen.

Text: Angelika Richter