Ellen Blumenstein – “Erika Mustermann – Neue Feministische Positionen”

Erika Mustermann – Neue Feministische Positionen

Erika Mustermann ist eine von der Deutschen Bundesdruckerei in den 1980er Jahren zur Illustrierung neuer Ausweispapiere geschaffene fiktive bundesrepublikanische Modellbürgerin.
Im deutschen Sprachgebrauch wird “Erika Mustermann” inzwischen auch als eigenständiger Begriff verstanden, der synonym für durchschnittlich, und/oder leicht abwertend-ironisch als “normal” steht.

Ein genaues Bild davon, was eine “normale” Frau in Bezug auf ihre Lebensrealität wie auf weibliche Identität sein könnte, gibt es natürlich schon lange nicht mehr. Genau von der Vorstellung einer möglichen Durchschnittsfrau aber geht die Ausstellung Erika Mustermann – Neue Feministische Positionen aus und nimmt die damit verbundenen Klischees zum Anlass und Ausgangspunkt, um unterschiedlichen weiblichen Rollenbildern und Identitätskonstruktionen nachzugehen. Die acht eingeladenen Künstler und Künstlerinnen untersuchen auf je unterschiedliche Weise weibliche Subjektivität vor dem Hintergrund zunehmend unscharfer Geschlechteridentitäten und stellen zum Teil auch die eigene Wahrnehmung und selbstironisch und humorvoll in Frage.

Wie kann weibliche Identität heute aussehen? Wie ist es um den Kampf der Geschlechter bestellt, können Vorstellungen und Zuschreibungen vielleicht auch einmal getauscht werden – oder umgedeutet? Hat sich die tradierte kategoriale Einteilung in Jungfrauen, Geliebte, Ehefrauen, Schwestern, Töchter, u.a. möglicherweise soweit aufgelöst, dass Frau (und Mann) mit ihnen auch spielen kann, dass Fremd-, wie Selbstbilder möglicherweise auch neu zusammengesetzt werden können? Wie sieht das Verhältnis von Frauen zu Einfluss und Macht aus, wie werden sie um- und eingesetzt?

Ausgehend von diesen und anderen Fragen versucht Erika Mustermann – Neue Feministische Positionen als zweites Projekt in einer Folge von drei Ausstellungen, einen Raum für mögliche Positionen und Ansätze beider Geschlechter zu öffnen und zu erweitern.

PIOTR BARAN
Mitgegangen, mitgefangen, 2004-09, Fotografien/Video
Wie inszenieren sich Frauen selbst für den männlichen Blick hinter einer Fotokamera? Piotr Baran reist an unterschiedliche Orte wie nach Riga und Talsi (Litauen), in die Bretagne an der französischen Atlantikküste oder zur Buchmesse nach Leipzig und fotografiert dort, wen und was er vorfindet. Für eine seiner Serien bittet er Mädchen im Teenageralter, für ihn zu posieren; alle schauen ihn direkt an, bzw. blicken geradewegs in die Linse. Der Gedanke an Vladimir Nabokovs Lolita springt den Betrachter förmlich an: Der Blick der Mädchen spricht von Selbstbewusstsein, von Herausforderung und Flirt mit dem Mitte dreißig jährigen, erwachsenen Mann, vom Versprechen auf Sexualität – aber auch von möglichem Missbrauch und Grenzüberschreitung.

EVA BERTRAM
Der Weiße Prinz,1991 (Super-8, Farbe, 9 min.)
Der jugendlich-romantische Mädchentraum von der großen Liebe: der Prinz, der auf einem Schimmel mit seidiger, wehender Mähne angeritten kommt, um sie zu erretten – von Fall zu Fall entweder aus den Klauen der ablehnenden Stiefmutter oder des bösen Zauberers. In ihrem Video Der Weiße Prinz hat Eva Bertram Pferd und Reiter zu einem Bild zusammengezogen, von dem ausgehend – und das demontierend – sie die mittels animierter Tricksequenzen, dokumentarischer Filmschnipsel und eigener Aufnahmen Sehnsüchte und Wünsche einer Frau zusammen fügt. Ob allein im Bett Sex mit dem Prinzen imaginierend oder aus ihrem eigenen Leben erzählend, kreiert die Künstlerin so ein lebendiges Bild weiblicher Subjektivität.

HEIKE GALLMEIER
Venus, 2001, Fotografie, 200 x 160cm
Die Geburt der Venus von Sandro Botticelli (ca. 1485/86) gehört zu den bekanntesten Gemälden der Kunstgeschichte und trägt bis heute zu den Vorstellungen idealer weiblicher Schönheit bei. “Aussehen wie die Venus von Botticelli” – welcher Frau gefiele das nicht? Wenn Heike Gallmeier sich für ihre Fotografie Venus selbst in die berühmte Szenerie der nackten Schönheit, die aus der Muschel entsteigt, hineinmontiert, setzt sie sich den noch immer gültigen Anforderungen an Weiblichkeit aus und stellt sie gleichzeitig humorvoll in Frage; “ihre” Kopie der Venus ist denn auch bewusst kulissenhaft und grob zusammengezimmert.

MARC GRöSZER
o.T., Tusche auf Papier, 2009
“Frau mit Waffe” ist der Titel eines Romans von Ulrike Edschmidt (2001), der sich mit zwei Frauengestalten aus dem Umfeld des deutschen Terrorismus in den 70er Jahren beschäftigt. Als selbstbewusste Frau, die ihre Interessen und Ideale im Zweifel auch mit dem Einsatz von Gewalt verteidigt, fügten Frauen wie Astrid Proll und Katharina de Fries dem bis dato rein sexuell-sinnlich konnotierten Bild der auf ihre körperlichen Reize reduzierten Femme Fatale eine entscheidende, sich die “Waffen” des Mannes aneignende Komponente hinzu. Diesem bedrohlichen Bild, das er zugleich mythisch zeitlos und hochaktuell umsetzt, geht Marc Gröszer in seinen Zeichnungen und Collagen Szenarien nach.

JOE NEAVE
o. T.
In Anlehnung an Techniken aus den Genres Comic und Karikatur, erkundet Joe Neave in seinen Zeichnungen männliche Klischeevorstellungen zum (vornehmlich sexuellen) Verhältnis der Geschlechter und stellt sie selbstironisch in Frage. Changierend von dem Manne unterworfenen Sexualobjekt bis männerverschlingender Amazone entwirft Neave zugleich ein komplexes Panorama männlicher Frauenfantasien, und macht deren ängste und Verunsicherungen sichtbar. Denn seitdem Frauen ihrem Begehren selbst auch Ausdruck verschaffen, gerät das Klischee der dienenden und dem Mann sich unterwerfenden Frau zunehmend ins Wanken – und setzt Mann unter Leistungsdruck.

ALINA RUDNITSKAYA
Bitch Academy, 2008, 35mm übertragen auf DVD, 29 min.
Eine Hure wird in der Regel negativ konnotiert. Was aber, wenn junge russische Frauen diese Zuschreibung einfach herumdrehen und auf eine Akademie gehen, um zu lernen, wie sie eine “Vixen” – eine Hure – werden können, die Männer verführen und an sich binden kann? In ihrem Dokumentarfilm folgt Alina Rudnitskaya ein Jahr lang einer Gruppe von Frauen, die einen Kurs unter dem Motto How to be a bitch belegt haben, und dabei nicht nur selbstsicherer werden und Neues über Männer herausfinden, sondern auch einiges über sich selbst. Es entsteht ein sensibles Porträt über die ängste, Wünsche und Hoffnungen junger Frauen in Russland und ihrer gesellschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten.

ANN-SOFI SIDEN
Head Lake Piss Down, Video, 2000, 7:26
Head Gallery Piss Up, Video, 2001 11:24
Die beiden Videos TITEL von Ann-Sofi Siden folgen einer gemeinsamen narrativen Struktur, je eines kann als Gegenstück des anderen gelesen werden. Sie sind eingebettet in eine Installation, in der die Videos auf gegenüberliegenden Wänden einander entgegentreten und der Ton beider sich vermischt. Siden zeigt ein Stück Alltag in der Christine König Galerie (Wien Galerie). Die Galeristin installiert eine neue Ausstellung, während eine Assistentin eine verstopfte Leitung wieder instand setzen muss. Macht, Hierarchien und weibliche Rollenbilder im Kunstkontext werden von Siden unter die Lupe genommen und hinterfragt. DAZU HATTE ICH SO WENIG INFO DASS ICH NICHT MEHR SCHREIBEN KONNTE. WENN NöTIG, FüGT HIER EINEN SATZ DAZU

SUSA TEMPLIN
totale Wohnung, diverse Materialien, 2007-09
Susa Templin interessiert sich für gebaute Räume. Sowohl Architektur also, als auch deren soziale und kulturelle Implikationen. In ihren komplexen Collagen, die vom Medium Fotografie ausgehen und über verschiedene Arbeitsschritte (re-fotografieren, ausschneiden, zusammenkleben, übermalen, in einen räumlichen Zusammenhang bringen, u.a.) stellt sie Situationen her, in denen die Betrachter/innen selbst in die Installation der Arbeiten einbezogen werden. Jeder erfährt am eigenen Körper die Konstruiert- und Fragmentiertheit des ICH – von dem auch die geschlechtliche Identität Bestandteil ist. Welchen Einfluss hat eine Stadt und ihr öffentlicher Raum auf den eigenen Lebensentwurf und die möglichen und/oder lebbaren Identitäten? – Das ist eine der Fragen, die die Künstlerin in ihren Werken verfolgt.